„Du wunderst dich sicher, warum Sophie in so einem Aufzug ist. Nun, das ist ganz einfach erklärt. Du warst früher schon öfters bei uns mit meiner Schwester und du weißt, dass in meinem Haus strenge Regeln herrschen. Ich lasse mir von niemanden auf der Nase herumtanzen, und schon gar nicht von meiner Tochter, wenn sich herausstellt, dass sie ihren Abschluss in der Schule vermasselt hat. Dazu hat sie noch gelogen und sich mit den falschen Freunden eingelassen, sodass ich sie bereits zwei Mal auf der Polizeiwache habe abholen müssen. Da war das Maß voll! Ich werde die Zeit, die sie jetzt warten muss, ehe sie den Abschluss nachholen kann, nutzen, um einige erzieherische Maßnahmen zu ergreifen. Sie ihr helfen, wieder in die richtige Spur zu kommen.“
Lea stand der Mund weiß offen. So hatte sie ihre Cousine gar nicht eingeschätzt. Aber sie hatte sie jetzt bestimmt auch zwei Jahre nicht mehr gesehen. Sie erinnerte sich jetzt auch wieder, dass es wahr war, was ihre Tante sagte. Immer wenn sie bei ihr zu Besuch war, gab es für sie und Sophie strikte Regeln, welche auch eingehalten werden mussten, oder mit Strafen versehen waren, sollte man sie brechen. Sie hatte das wohl ein wenig verdrängt und auch jetzt musste sie nachdenken, um sich an alles zu erinnern. Ihre Tante fuhr mit ihren Ausführungen fort.
„Da du ab jetzt unter meinem Dach lebst, werden einige Regeln natürlich auch für dich gelten. Je nachdem wie dein Betragen ist und wie du dich verhältst werden diese dann entsprechend angepasst. Durch Sophies Erziehung wird es auch einige Maßnahmen für dich geben, die es mir einfach erleichtern werden, alles unter einen Hut zu bekommen. Ich habe nämlich einiges um die Ohren und da kann ich keine anderen Probleme um mich herum gebrauchen. Ich hoffe, dass wir uns da verstanden haben?“
Sie sah Lea über den Rückspiegel mit strengem Blick fragend an und Lea nickte schnell, da sie nicht schon am Anfang Ärger herauf beschwören wollte.
„Gut. Dann hole ich jetzt noch die Sachen, die ich besorgen wollte und dann fahren wir nach Hause. Du möchtest dich sicher etwas einleben und nach der Fahrt ein wenig ausruhen.“
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Sophie schaute die ganze Zeit aus dem Fenster und Lea hing ihren Gedanken nach. Die Worte ihrer Tante hatten sie ziemlich eingeschüchtert. Was würden das wohl für Regeln sein und wie würde ihr Leben bei ihrer Tante aussehen?
Sie hielten plötzlich an und Lea schreckte auf. Sie standen auf einem Hinterhof vor einer Art Laderampe, oder einer Warenausgabe. Das Mädchen blinzelte und versuchte sich zu orientieren. Sie erkannte neben einer Tür ein Schild. Sie konnte die größeren Buchstaben lesen.
–CareSan–
-Alles rund um Spezialpflege und Mehr-
Der Rest war zu klein, um ihn auf die Entfernung zu entziffern. Ihre Tante war bereits ausgestiegen und ein Mann öffnete die Tür, um sie zu begrüßen. Er hatte sie wohl bereits erwartet. Sie wechselten ein paar Worte, dann schafften der Mann und ein weiterer einige Kartons und Pakete zum Auto. Sie beluden den Kofferraum. Der Zweite, eher noch ein Junge in Leas Alter, schaute ziemlich neugierig auf die Rückbank. Lea war es unangenehm und Sophie starrte nur auf ihre Füße. Sie versuchte, ihr Kleid möglichst weit nach unten zu ziehen. Die Kofferraumklappe schlug zu und ihre Tante stieg wieder ein, nachdem sie den beiden Helfern mit einem kleinen Trinkgeld gedankt hatte.
„Was war das denn alles?“, fragte Lea, welche immer schon ziemlich neugierig gewesen war.
„Das wirst du schon noch früh genug erfahren“, meinte ihre Tante und steuerte den Wagen aus dem Hof hinaus.
„Ich sagte ja, dass für dich auch einige neue Regeln gelten und da braucht es noch ein paar Utensilien, um diese auch durchsetzen zu können. Außerdem brauchte ich noch ein paar extra dicke Windeln für Sophies.“
Die letzten Worte konnte Lea gar nicht genau verstehen, denn genau in dem Augenblick hupte es ziemlich laut. Draußen an einer Ampel schien jemand geschlafen zu haben. Hatte sie gerade „extra dicke Windeln“ verstanden? Lea schaute zu Sophie hinüber. Die hatte ihr Kleid immer noch fest umklammert und über ihre Knie gezogen. Die Situation war so surreal, dass Lea einfach zu sich sagte, dass sie sich verhört haben musste. Sie war einfach erschöpft und alles würde sich ganz normal aufklären, sobald sie zu Hause waren und sie sich etwas ausruhen konnte.
Es gab keine weiteren Unterbrechungen der Fahrt und der Rest verlief still und ereignislos. Der Wagen bog einmal scharf nach rechts ab und die Gegend wurde ruhiger und weniger Autos kamen ihnen entgegen. Kurz hielten sie noch einmal vor einem schmiedeeisernen Tor, welche sich wie von Geisterhand öffnete und sich genauso selbstständig wieder hinter ihnen schloss. Es hatte irgendetwas Erhabenes und Endgültiges, als es knarrend ins Schloss fiel.
Erinnerungen kamen in Lea hoch. Ihre Tante bewohnte ja dieses große, abgelegene Haus. Als Kind dachte sie immer, es sei ein Schloss, aber es war ein Erbstück ihres Onkels, den sie nie kennengelernt hatte. Sie schaute auf die vorbeiziehenden Pappeln der langen Allee, welche zum Haus führte, als plötzlich das Anwesen vor ihnen auftauchte. Es war nicht wie ein Schloss gebaut und die Wirklichkeit glättete einige Kanten ihrer Erinnerung. Es war ein großes, recht modernes Haus, mit einer schönen Front, einer großen Eingangstür und eigenen Garagen. Sie hielten in einem Carport und der Motor verstummte.
Es war spät geworden und die Dämmerung legte sich bereits über die Einfahrt, das Haus und den großen Garten. Lea konnte gar keine Details mehr erkennen, aber dafür war ja später noch viel Zeit.
Ihre Tante schnallte ihre Tochter aus dem Kindersitz und hob sie halb aus dem Auto, um dann alle Sachen aus dem Kofferraum zu packen. Zu den Mädchen meinte, sie sollten schon mal hineingehen. Sophie sollte Lea ihr neues Zimmer zeigen und ihr helfen, sich zurechtzufinden.
Das taten die beiden auch und als sie allein waren, hatte Lea endlich Zeit Sophie ihre Fragen zu stellen.
„Jetzt erzähl mal, was war denn bei euch los?“