Lea’s Erziehung (43)

Lea hatte die Augen geschlossen und dachte für den Augenblick eines Wimpernschlages darüber nach, ob sie schon jemals eine so außergewöhnliche und außerkörperliche Erfahrung gemacht hat, wie die, welche sie gerade erlebte.

Die Flüssigkeit, auf deren Oberfläche sie völlig regungslos und anstrengungfrei schwamm, wurde nur von ihren eigenen, unwillkürlichen, wenn auch sehr kleinen Bewegungen in sanfte Schwingungen versetzt. Die weichen Wellen bewegten sich von ihr fort und erreichten bald die Wände eines dunklen, aber nicht beängstigenden Behälters, in dem sie sich ganz allein befand. Der Tank war so groß, das sie weder mit einem Fuß, noch mit einer Hand die Wände erreichen konnte, ohne sich von der Stelle zu bewegen und so tief, dass sie den Grund nicht stehend zu berührte vermochte.

Die Flüssigkeit war kein Wasser. Sie war dicker und zäher, aber auch nicht wie Honig. Man konnte nur sehr schlecht in ihr schwimmen und jede Bewegung war etwas anstrengender als man es gewohnt war. Aber Lea wollte sich auch gar nicht bewegen. Die Flüssigkeit trug sie ohne Probleme oben, ohne dass sie etwas tun musste. Es war warm, aber nicht zu heiß. Eigentlich fühlte das Mädchen überhaupt keine Temperatur. Es war perfekt auf ihre Körpertemperatur abgestimmt. Es war perfekt.

Durch ihre geschlossenen Augenlider konnte sie den zarten Schimmer des gedämpften Lichtes wahrnehmen, welches ohne ersichtliche Quelle den gesamten Innenraum erhellte. Dieses Licht wurde von den zitternden Wellen der Flüssigkeit in tausend glitzernde, hypnotische Facetten gebrochen und überall um sie herum verteilt. Bald konnte man nicht mehr sagen, in welche Richtung man trieb oder wie die Lage des eigenen Körpers war. Nur die Schwerkraft teilte den Raum in Oben und Unten.

Die Wellen an den Wänden lösten ein behäbiges, dumpfes, schmatzendes Echo aus, welches sich zu einem Grundbrummen überlagerte. Ein allgegenwärtiges weißes Rauschen, das alle anderen Geräusche begleitete und diese in ihrer Schärfe und Intension verschliff und dämpfte.

Lea hatte es schon immer gemocht, beim Baden fast schwerelos auf dem Wasser zu treiben. Aber das hier war eine neue Dimension. Das Gefühl zu schweben steigerte sich zu einem berauschenden, entzückenden Zustand. Das Bewusstsein, hier drinnen absolut sicher zu sein, überkam die Patientin so heftig, dass ihr Geist bereits panisch wurde, wenn er daran dachte, dass sie diesen Kokon einmal wieder verlassen musste. Doch das waren nur kurze Anflüge. Die meiste Zeit genoss Lea ihren Zustand in vollen Zügen. Völlig befreit von Zwängen, Pflichten, Gedanken, Bewegungen und körperlichen Verhältnissen hätte sie nicht sagen können, wie lange sie schon hier drin war.

Aber das wollte Lea auch gar nicht. Zeit war zu einem abstrakten, fast lächerlichen Konzept verkümmert. Nichts lag ihr ferner, als Dinge in einer bestimmten Zeit zu erledigen, sich an Termine zu erinnern oder darüber nachzudenken, wie viel Zeit ihr noch für eine bestimmte Sache verblieb. Das Mädchen lachte kurz und ihr Körper zuckte ganz leicht. Ihr kam die Vorstellung, etwas tun zu müssen, um zu sein, wie sie war, albern und konzeptlos vor. Weltliche Gedanken wie die an ihr Studium, ihrer beruflichen Karriere oder der effizienten Einteilung ihrer Lebenszeit zum Nutzen einer konstruierten Gesellschaftsform und -verpflichtung, hatte sie bereits sehr früh, nahezu gänzlich verworfen. Was genau der Zweck und der Sinn ihres Daseins anging, so waren auch diese Erinnerungen verblasst, wenn auch nicht gänzlich verschwunden. Aber sie rückten in den Hintergrund des Augenblicks. Lea zelebrierte ihre Existenz, einzig mit der Tatsache, dass sie existierte. Sie sog jeden Tropfen Gegenwart aus dem aktuellen Moment und erhielt dafür eine Glückseligkeit, welche sie selber kaum beschreiben, sehr wohl aber erkennen und auskosten konnte.


Ein leises Klopfen und stimmhaftes Murmeln sorgte dafür, dass sie aus diesem herrlichen Zustand kurz zurück in die physische Welt geleitet wurde. Das Mädchen bewegte Arme und Beine, um ihren Körper zu spüren, blinzelte und geriet in einen Zustand zwischen wach, schlafen und Trance, welcher nicht so tief war wie der vorherige. Bilder und Gedanken formten sich in ihrem Kopf und sie erinnerte sich sehr bildhaft daran, wie sie hierhergekommen war.

Der Fahrstuhl stoppte und ein leichter Ruck ging durch alle Passagiere. Lea schaute wie alle anderen gebannt auf die sich öffnende Tür. Im Augenwinkel erhaschte sie einen Blick auf eine Anzeige an der rechten Innenwand, welche mit mehreren Lichtern die Stockwerke anzeigte, aber scheinbar keinen Knopf besaß, um sie auszuwählen. Lange konnte sie aber nicht darüber nachdenken, denn schon wurde sie hinausgeschoben in den Flur, der vor ihnen lag.

Der Anblick war fast ein wenig enttäuschend, denn der Gang sah mit seinen eierschalenweißen, schmucklosen Wänden fast genauso aus wie die des Stockwerkes, in dem sie losgefahren waren. Alles war hell, sauber und irgendwie steril. Die kleine Truppe folgte dem Gang geradeaus und kam an mehreren verschlossenen Türen vorbei, welche alle mit einem Schild versehen waren, auf denen stand, was sich in dem dahinterliegenden Raum verbergen mochte. Leas Herz schlug wieder spürbarer, als sie versuchte, einige der Aufschriften zu lesen.

-Uteruskammern-

-Prefötal-Becken-

-Geburtsstation-

-Neugebore-

-Isolation 12-

-Gruppenstrafraum-

Und es folgten noch mehr, die sie aber zu schnell passierten, sodass Lea nichts mehr erkennen konnte. Sie konnte mit den meisten Fachbegriffen ohnehin nichts anfangen. Die abzweigenden Gänge und die vielen Kreuzungen, an denen sie einmal links, einmal rechts abbogen, deuteten darauf hin, dass es sich um eine sehr große Anlage handeln musste. Die Ausdehnungen wirkten viel größer, als es das Gebäude von außen vermuten ließ, doch dieser Gedanke kam wahrscheinlich niemandem in der Gruppe. Alle schauten sich verlegen und mit wachsender Anspannung um und schwiegen. Bis auf die Frau mit den kurzen Haaren und der Lederjacke. Sie machte bereits die ganze Zeit ein skeptisches Gesicht, zog immer wieder die Brauen abfällig hoch und schnaufte einige Male, als ginge ihr das alles nicht schnell genug und war ihr ohnehin nicht genehm. Scheinbar wollte sie das alles schnell hinter sich bringen, oder gar nicht erst hier sein. Was vielleicht auf einige andere auch noch zutreffen mochte. Sie machte es aber besonders deutlich.

„Da habt ihr aber ordentlich was aufgebaut was?“, meinte sie mit erhobener Nase und schnippigem Ton in ihrer lauten Stimme.

„Gerald hat sicher die Hälfte davon bezahlt. Ich schau mich nur mal aus Neugierde hier kurz um. Jemand muss mir nachher den Rückweg zeigen. Ist ja alles sehr verworren hier.“

„Bitte“ begann Rose sehr leise und mit sanfter Stimme. „Wir müssen euch darum bitten, in der Einrichtung etwas leiser zu sprechen, wir möchten eine gewisse Atmosphäre schaffen, in der sich jeder Patient in seiner Geschwindigkeit erholen kann.“

„Ach, Schnickschnack erholen. Ihr tut doch hier nur so mysteriös von wegen medizinisches Institut. Ich hab heimliche einige Unterlagen von meinem Mann eingesehen und die deuten darauf hin, dass hier ganz andere Dinge laufen.“

Rose wurde noch etwas leiser. „Da hast du sicher etwas fehlinterpretiert. Wir sind … „

„Genug jetzt!“, zischte es in einem gerufenen Flüstern schlangenartig aus der Pflegerin heraus, welche die Frau mit den blonden Haaren schob. Ihre kleinen Augen glühten und erschreckten Lea. Sie hatte sich bereits gedacht, dass es mit dieser Frau nicht gut Kirschen essen war. Das hatte sie gleich an ihrem Blick erkannt, der kalt und sehr unheimlich war.

„Wenn du nicht still bist, Claudia, werden wir gleich zu Beginn Maßnahmen ergreifen müssen, um klarzustellen, dass wir solches Verhalten hier nicht tolerieren.“ sprach sie weiter und fixierte die Frau in der Lederjacke mit eisigen Augen. Diese wirkte ein klein wenig eingeschüchtert, wollte das aber nicht zeigen.

„Ach, sind wir schon beim DU? Ich möchte nicht das …. ummmmpf“

Ihre Antwort verstummte sofort, nachdem ihr die Schwester mit dem kühlen Blick in einer blitzschnellen Bewegung die Hand auf den Mund gedrückt hatte. Als sie sie wieder wegnahm, prangte ein großer, weißer Schnuller im Gesicht der sichtlich überraschten Frau. Ihre Augen waren weit aufgerissen und im Moment war sie dermaßen überrumpelt, dass sie mit keinen Gegenmaßnahmen reagierte. Lea fand, dass es ein merkwürdiger Kontrast war, eine so selbstbewusste Frau mit ihren Klamotten aus Jeans und Leder und der emanzipierten Frisur mit einem Babyschnuller im Gesicht zu sehen.

Die Prozession hielt an und sie hatten scheinbar ihre erste Station erreicht. Eine Doppelglastür öffnete sich und sie betraten einen Bereich, dessen Farbgebung nicht ganz so steril und kalt wirkte. Der Boden war in einem hellen Grün und die Wände in einem zarten Rose gehalten. Alles wirkte sofort freundlich und einladend. Eine größere Kreuzung lag vor ihnen, in deren gegenüberliegenden Ecke sich eine weitere Rezeption befand. Dahinter war eine Pflegerin, die sofort auf die Ankömmlinge zukam und mit ihren Kolleginnen sprach. Auch weiteres Personal bevölkerte die abgehenden Gänge und wechselte zwischen den vielen Türen hin und her.

Alle vernahmen plötzlich ein feuchtes Spucken, ein Ploppen und ein klapperndes Poltern. Claudia hatte ihren Schnuller hinter sich auf den Boden gespuckt und einen rebellischen, triumphierenden Blick aufgesetzt, der herausfordernd wirkte und ihre Überlegenheit zeigen sollte. Zu ihrer fast enttäuschten Verwunderung kümmerte sich aber niemand um sie. Ein vorbeigehender Pfleger nahm den Schnuller im Laufen auf und steckte ihn ein. Niemand kommentierte ihren Ausbruch. Dann wurden sie von der jungen Schwester abgelenkt.

„Ah, unsere Gruppe Sechs. Es ist alles vorbereitet, ihr könnt gleich in VR 3 gehen.“

Sie wurden zu einer der Türen geleitet und Lea konnte gerade noch -Vorbereitungsraum 3-, an dem Schild erkennen, bevor sie hineingeschoben wurde.

Auf den ersten Blick wirkte auch dieser Raum unspektakulär und einfach. Er hatte etwas von einem Warteraum in einer Arztpraxis. Auf einem dunklen Teppichboden waren ein paar Stühle in der Raummitte aufgestellt. Einige Beistelltische, auf denen Zeitschriften lagen, wurden beiseite geschoben, um Platz zu schaffen. Bilder hingen an den Wänden, ein Schrank stand unauffällig in einer Ecke und ein indirektes Licht sorgte dafür, dass alles deutlich und klar zu erkennen war. Die Stühle waren zur gegenüberliegenden Stirnwand gedreht und als Lea an ihnen vorbei sah, erkannte sie, was diesen Raum, trotz des Anscheins der Normalität, merkwürdig wirken ließ.

Dicht an die Wand geschoben stand ein Möbelstück, das sich auf den zweiten Blick als ein sehr großer Wickeltisch entpuppte. Je länger man hinsah, desto deutlicher wurde das durch Details, welche sich dem Betrachter nach und nach aufdrängten.

Der Tisch hatte eine helle Grundfarbe und war stabil gebaut. Eine gummierte Polsterung dominierte seine Oberseite und bildete mit weiteren Polstern eine Art Kuhle, in der eine erwachsene Person bequem liegen konnte. Die Kunststoffoberfläche war ebenfalls in einer neutralen, hellen Farbe gehalten, welche ein wenig ins Cremefarbene abging. Unter der Tischplatte, aus deren Seite zwei niedrige Gitter ausgingen, um die Wickelauflage zu halten, waren mehrere Regale und einige Schubladen angeordnet. In den Regalen waren weiße Stapel zu sehen, die Lea nur zu gut kannte. Einem Unbeteiligten wäre es vermutlich erst bei genauerer Untersuchung aufgefallen, aber es waren Stapel von Windeln. Große, dicke Windeln, deren Einsatzzweck eindeutig war. Flaschen, Tiegel und Päckchen waren ebenfalls dort aufbewahrt und Lea wusste auch diese, zu Windelpflegeprodukten zuzuordnen. Bestand die Vorbereitungen etwa daraus, dass sie hier alle gewickelt wurden?

Alle Teilnehmer, welche nicht in einem Rollstuhl saßen, mussten sich auf einen der Stühle setzen. Die Rollis wurden daneben und dazwischen geschoben. Alle, bis auf Rose, die Schwester mit dem kalten Blick und ein sehr kräftiger und großer Pfleger verließen den Raum. Der Pfleger baute seine Person etwas abseits auf und verschränkte seine Arme vor seinem Körper. Jetzt konnte man gut erkennen, dass seine Muskeln sich bei dieser Bewegung schwer gegen sein weißes Hemd drückten. Er war ein imposanter Mann und unter anderen Umständen hätte Lea sogar seinen kantigen Gesichtszügen etwas abgewinnen können. Aber jetzt lag ihre Konzentration auf ganz anderen Dingen. Weitere Dinge drangen in ihr Bewusstsein und zeigten ihr, dass dieser Raum sogar noch seltsamer war, als der erste Blick verriet. Von den Zeitschriften auf den Tischen schauten ihr junge Mädchen, Frauen und Männer entgegen, die ganz offensichtlich Windeln und Babysachen trugen. Einige grinsten fröhlich unter ihren Schnullern hervor. Die Bilder an den Wänden waren schön und mit geschwungenen Pinselstrichen künstlerisch durchaus wertvoll entworfen. Die Szenen zeigten allerdings weitere erwachsene Menschen in dicken Pampers, stilistischen Schnullern und babyhaften Positionen, wie das Füttern mit einer Flasche durch eine andere Person.

Alle schauten von ihrer sitzenden Position aus direkt auf den Wickeltisch und jeder machte sich seine eigenen Gedanken. Eine seltsam aufregende, elektrisierende Stimmung lang über ihnen und die Augenpaare wechselten von verlegenem Betrachten des Tisches zu schamhaftem senken des Blickes. Für einen kurzen Augenblick war es ganz still. Dann ging hörbar die Tür auf und jemand betrat den Raum, den unsere Patienten nicht sehen konnten, ohne sich um 180° umzudrehen. Ein Zucken ging durch die Köpfe, aber keine drehte sich wirklich. Die Tür wurde geschlossen und Schritte kamen näher auf die Sitzenden zu. Es folgte ein Räuspern und die eingetretene Person umrundete den Stuhlkreis, um sich zu zeigen.

6 Gedanken zu “Lea’s Erziehung (43)

  1. Avatar von Blackstat Blackstat schreibt:

    Ich bin zufällig vor ein paar Wochen auf die Geschichte gestoßen und obwohl es nicht genre ist bin ich fasziniert von der Geschichte. Ich hoffe es geht schnell weiter und ich bin gespannt wie man sie vorbereitet, ich ahne schon ein bisschen was ,aber lasse mich gerne überraschen.

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  2. Avatar von thomas thomas schreibt:

    Weiterhin schöne Geschichte mit einen vielfältigen Inhalt. Ich liebe Regressions Phantasien, daher gefällt mir der Pfad mit Lea natürlich mehr. Bitte weiterhin noch viele Folgen davon.

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  3. Avatar von Werner Werner schreibt:

    Es ist herrlich wieder in die Anfänge eines Windellebens zurückversetzt zu werden. Ich wurde ja auch schon von klein auf in Windeln erzogen und war bis zu meinem 15 Geburtstag ein richtiges windelvollscheißendes Baby.
    Wie mich diese Schilderungen doch aufrütteln und mich an ll dsa erinnern.

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